Mittwoch, 2. April 2014

Meine Essstörung - wie fing es an? wie geht es mir jetzt?

Dies ist mein erster, expliziter Post über ein Thema, das mir seit einigen Jahren an der Seele nagt und über das ich mich nie getraut habe zu reden oder zu schreiben. Ich habe es oft angedeutet und wer unter 'Über mich' meine Geschichte gelesen hat, wird es wissen: Ich litt an einer Essstörung. (Ja, in der Vergangenheitsform!) 
!Achtung! Dieser Post ist sehr lang und detailliert.


Nein, ich hatte keine Magersucht und keine Bulimie, sondern litt unter einer Mischform, die auch Binge Eating enthielt, eine Störung, über die man hier in Europa noch nicht viel hört und weiss, die in den USA aber schon sehr ernst genommen wird.
Den Betroffenen - auch mir - sieht man selten etwas an. Manche werden dick, aber die meisten werden doch eher pummelig, nicht wirklich fettleibig - so wie viele Magersüchtige nicht 40 kg wiegen, sondern das sind nur die Extrembeispiele in einer unbekannten, erschreckend hohen Zahl von Betroffenen, die in einer Grauzone schwimmen. Leider werden oft nur die Extremfälle ernst genommen, was ich auch am eigenen Leib erfahren musste. Selbsthilfe ist dann oft die einzige Hilfe, die man kriegt. 

Für alle, die nicht wissen, was 'bingen' ist, können es entweder googeln oder ich gebe hier schnell eine kurze Erklärung. 'Bingen' bezeichnet das zwanghafte "in sich hinein stopfen" von Nahrung unter Einfluss einer starken, unkontrollierbaren Heisshungerattacke/Fressanfall. Es ist ein innerer Zwang zu essen, dem man sich nicht entziehen kann. Oft ist es egal, was man isst, je nach Ausmass des Anfalls und der vorhandenen Nahrungsmittel.


Eine sehr gute Dokumentation, die ihr euch mal ansehen solltet und die mir aus dem Herzen spricht:



Doch nun zum eigentlichen Thema, wie es bei mir anfing. Ich hoffe mit diesem Post vielleicht manchen, die ihn lesen, das Schicksal zu ersparen, das ich hatte. Denn ich will mit diesem Beitrag kein Mitleid heischen, sondern nur eine Warnung aussprechen!

Die Essstörung begann mit dem Tag, an dem ich beschloss, weniger zu essen. Diese Entscheidung war nicht etwas, das sich langsam anschlich, es war nicht etwas, in das ich abrutschte weil mir mein Unterbewusstsein einredete, ich solle nicht mehr essen aus welchen Gründen auch immer, sondern es war eine bewusste Entscheidung, die ich traf.
Auslöser für diese Entscheidung war mein mangelndes Selbstwertgefühl. Das wurde hervorgerufen durch Mobbing und durch die Einstellung meiner Familie, für die genug niemals genug ist. Ich wurde geliebt, keine Frage, und mir ging es auch gut, aber ich stand und stehe auch unter Druck, nicht nur was meine Leistungen betrifft, sondern auch was mein Äusseres angeht. Mode, Essen und Fitness sind essentielle Themen in meiner Familie, wenn es nicht um Wirtschaft oder Politik geht, dann geht es darum ...
Nach ein paar schmerzhaften Rückschlägen über die ihr in meiner Geschichte lesen könnt, machte mein Grossvater eine Bemerkung, die mich dazu veranlasste, mich selbst auf Diät zu setzen. Ich war 15 und die Pubertät setze gerade mit Pauken und Trompeten bei mir ein, von einem Tag auf den anderen wuchsen mir Brüste und mein Becken wurde breiter und ich nahm zu. Vorher war ich ein dünnes, etwas schlacksiges, trainiertes Mädchen gewesen (durch's Ballett), doch plötzlich wurde ich fraulicher. Eine normale Entwicklung könnte man meinen - nicht so für meinen Grossvater. Er begrüsste mich und sagte: "Hast du zugenommen? Man sieht es. Auch an deinem Gesicht." 

Und damit war es passiert. Ich beschloss, weniger zu essen (obwohl ich bis dahin ein gesundes, ausgewogenes Essverhalten hatte) und schaute beim tanzen in jeden Spiegel, konnte an keinem Schaufenster vorbei gehen ohne mich zu betrachten. Wenn ich normal essen musste, weil meine Familie mich dazu zwang, versuchte ich es mit fasten wieder gut zu machen. 
Als ich merkte, welche Erfolge ich damit erzielte, begann ich, fast nichts mehr zu essen. Leider - oder Gott sei Dank? - war ich aber mental nicht stark genug, das durchzuhalten, so dass ich, sobald der Druck zuviel wurde oder ich mal wieder verletzt wurde, mich dem Verlangen meines Körpers nach Nahrung hingab und einfach warlos alles in mich hinein stopfte, was ich finden konnte und erst aufhörte, als mir wirklich kotzübel wurde und ich mich vor Krämpfen auf dem Boden wand.
Dieses Ekelgefühl, dieser Verzweiflung und dieser Schmerz nach dem bingen, das ist einfach unbeschreiblich ... es ist, als ob mit jedem Anfall ein weiteres Stück in dir stirbt, als würde jeder weitere Verlust von Kontrolle dich immer mehr von dem Mädchen trennen, das du mal warst... und trotzdem, wenn ein Anfall kommt, bist du machtlos. Der Gedanke an Essen geht nicht mehr aus deinem Kopf, du kannst dich nicht dagegen wehren, es ist wie ein urtrieb, wie, als würdest du versuchen zu unterdrücken auf die Toilette zu gehen - irgendwann muss es einfach raus!
Danach konnte ich mich nicht übergeben, aus irgendeinem Grund kann ich das einfach nicht, also versuchte ich es wieder mit fasten. Um das Völlegefühl loszuwerden, schluckte ich Abführtabletten. Ich wurde regelrecht süchtig danach. Nicht nur nach Binge-Anfällen, sondern auch nach normalen Mahlzeiten schluckte ich Tabletten.

Der Wechsel aus hungern und fressen, emotionalen Hoch- und Tiefgefühlen, dem Stolz, nicht zu essen, und dem Ekel vor mir selbst wenn ich es tat, das Schlucken von Abführtabletten ... all das machte mich körperlich und seelisch kaputt. Ich entwickelte ernstzunehmende Depressionen, mein Stoffwechsel und meine Verdauung funktionierten fast nicht mehr und ich lag tagelang nur im Bett, auch mit Schmerzen, weinte und fühlte mich verloren.
Klickt auf das Bild für eine Grossansicht.
Das Verhältnis zu meiner Mutter zerbrach. Sie konnte nicht verstehen, was aus ihrer einst so lebensfrohen, zielstrebigen und auch begabten Tochter geworden war und ich konnte nicht verstehen, wie sie nicht sehen konnte, wie es mir ging. Sie beschimpfte mich als faul und fett (ich hatte mich von 53 kg auf ca. 65 kg hoch gebinget) und ich heulte und wollte einfach weg von allen. Meinen Freundinnen konnte ich nicht erzählen, wie es mir ging, ich konnte mit niemandem wirklich darüber sprechen. Ich machte zwar Leuten gegenüber, denen ich vertraute, Andeutungen, aber ich schämte mich und ekelte mich vor mir selbst, so dass ich es nicht schaffte, um Hilfe zu bitten.
Jeden Tag hoffte ich, dass jemand durch meine Mauer blicken würde, und sehen könnte, was für ein kaputtes Mädchen ich wirklich war. Ich sehnte mich so sehr nach Halt und Hilfe, konnte aber nicht darum bitten. Vielleicht war es auch der Wunsch nach Aufmerksamkeit, der mich davon abhielt, oder einfach die Abscheu vor meiner eigenen Schwäche.

Schlussendlich blickte jemand hinter die Mauer - und zwar mein Klassenlehrer. Er sprach mich eigentlich wegen meinen schlechter werdenden Leistungen immer wieder an, aber spätestens als ich im Sportunterricht öfter Asthmaanfälle bekam oder unterzuckert zusammenbrach weil ich wieder 2 Tage nichts gegessen hatte, wurde ihm klar, was mit mir los war und schickte mich zu einer Vertrauenslehrerin/Schulpsychologin. Sie half mir sehr behutsam, verurteilte weder mich noch meine Familie und so baute ich langsam Vertrauen zu ihr auf, und die Tatsache, dass mich ihr gegenüber öffnen konnte, half mir, mich mir selbst gegenüber zu öffnen und zu realisieren, was mit mir los war.

Und so Begann die Selbsthilfe. Ich brauchte nur wenige Sitzungen bei ihr bis ich begriff, dass ich mit meinem Verhalten nicht nur meine Zukunft sondern auch meine Gesundheit massiv auf's Spiel setzte! 
Von dem Tag an zwang ich mich, morgens aufzustehen, zu frühstücken und in die Schule zu gehen. Dort etwas zu essen, fiel mir nicht leicht, und wenn ich schwach wurde, kaufte ich mir Schokolade, Süssbackwaren und allen anderen, ungesunden Mist - aber wenigstens war ich anwesend!
Ich bemühte mich, mich wieder zu integrieren, was aber leider nicht alle aus meiner Klasse zuliessen, da sie sich schon eine festgefahrene Meinung von mir gebildet hatten.
Als Zeichen der Stärke für mich, schnitt ich mir die Haare ganz kurz und kaufte mir eine Lederjacke.
Das war der erste Schritt.
Raus aus dem Schneckenhaus, rein in's Leben. Es war mein Abijahr und deshalb waren meine Mitschüler zu beschäftigt, um mitzukriegen, wie's mir ging und ich brachte es auch nicht über's Herz, es ihnen zu sagen. Nur die Freundschaft zu 2 Mädchen, die ich in der Theater AG kennen lernte und die meine Vorgeschichte nicht kannten (in meiner Klasse war ich die Asoziale, die Schwänzerin, ...) half mir, nicht wieder abzustürzen. Mit ihnen konnte ich einfach so sein, wie ich vor dem ganzen Mist war!

Nach einem guten Abi ging's als einzige aus meiner Klasse direkt auf die Uni zum Jurastudium (denn Ehrgeiz hatte ich trotz allem noch!). 2 Wochen blieben mir zwischen mündlichen Prüfungen und Semesterbeginn.
Mir blieb also gar keine Zeit, mich mit mir selbst auseinander zu setzen und so ging es mir nicht wirklich besser.
Erschöpfung, Migräne und Müdigkeit gaben sich die Hand und ich fühlte mich nicht fähig, ein soziales Netzwerk aufzubauen. Einsamkeit machte sich in meinem Leben breit ... Ich verlor den Kontakt zu den Leuten aus der Schule und fand keinen neuen Anschluss. Das Verhältnis zu meiner Mama bliebt angespannt, obwohl es sich durch meine guten Abinoten und meine Zulassung zum Jurastudium gebessert hatten.
Als bei meiner Mama jedoch Krebs festgestellt wurde, wachte ich auch auf. Das war der zweite Schritt. Ich merkte an ihrer körperlichen Verfassung, und wie stark sie damit umging, dass auch ich etwas an mir ändern muss, und so bemühte ich mich um einen gesünderen Lebensstil. In diesem Winter gründete ich diesen Blog, vorallem, weil ich abnehmen wollte, weil ich sozusagen den Reset-Button klicken wollte und wieder so sein wollte wie vor meiner ES - aber natürlich auf "gesundem Weg". Aber da war wieder dieser Druck, den ich vorallem selbst auf mich aufbaute, aber auch durch die Tatsache, dass meine ehemals 120 kg schwere Mutter durch die Chemo immer mehr abnahm und ich sie als Konkurrenz empfand (was absolut schwachsinnig war!).

Als ich dann letztes Jahr meinen Freund zusammen kam, stand es fest: Ich wollte gesund werden!
Dies war der dritte Schritt.
Ich wollte nicht, dass er mitkriegt, wie kaputt ich im Inneren bin. Ich wollte, dass er die Kleio liebt, die ich mal war und die ich wieder sein wollte! Ich ging zum Arzt, liess mir Medikamente gegen meine chronische Verstopfung und die Blähungen geben und liess die Abführtabletten weg.
Meine Verdauung normalisierte sich langsam, so dass ich die Medikamente nur noch nach schweren Mahlzeiten oder Anfällen brauchte.

Ich begriff, dass fasten nach einem Fressanfall nichts bringt. Denn die Anfälle waren nur der Hilfeschrei meines Körpers nach Nährstoffen.

Ich begriff, dass ich mich ausgewogen ernähren musste. Dass ich nicht einen Fressanfall durch fasten wieder ausgleichen kann, sondern verhindern muss, dass es überhaupt zu Fressanfällen kommt - indem ich meinem Körper gebe, was er braucht: Nahrung, Wasser und Ruhe!

Ich begriff, dass ich verzeihen muss, um weiter machen zu können. Ich kann die Gründe und die Schuld für meinen Werdegang nicht bei anderen suchen, oder stundenlang überlegen und darüber nachdenken, warum es passiert ist. Es ist passiert. Weil ich eine Entscheidung getroffen habe. Ich war es, die hungern wollte, niemand hat mich dazu gezwungen. Ich muss die Vergangenheit hinter mir lassen, damit abschliessen, den Menschen in meinem Leben verzeihen, die vielleicht mal eine unbedachte Bemerkung gemacht haben, die mich unter Druck gesetzt haben, die mich gemobbt haben, die mich nicht verstanden haben, die es nicht sehen wollten ... es ist passiert. Und sie wussten es nicht besser. Aber ich weiss es nun besser und deshalb werde ich gesund.

Ich begriff, dass ich die Zeit nicht zurück drehen kann. Über 5 Jahre habe ich mit der ES verschwendet, das ist vielleicht der Grund, warum ich mich manchmal noch wie 16 fühle. Es ist, als sei die Zeit in einem Paralleluniversum weiter gelaufen, als sei das gar nicht ich, die mein Leben gelebt hat, sondern die ES. Man kann sich das so vorstellen, dass die ES wie ein Dämon ist, die sich im Körper einnistet und die eigentliche Seele verdrängt, die dann in einer Art schwarzes Loch in einen Dornröschenschlaf fällt, ehe sie wachgeküsst wird - durch (Selbst)Liebe, durch Heilung. 
Es machte mich fertig, in den Spiegel zu sehen, und nicht zu wissen wer diese Frau eigentlich ist, die ich da sehe!

Ich lebe nun seit ein paar Wochen komplett ohne Tabletten und seit einigen Monaten mehr oder weniger binge-frei (ab und an passiert es, aber das sind Einzelfälle, keine Regel mehr). Ich hungere nicht mehr.

Ich bin noch nicht geheilt. Aber auf einem guten Weg. Mein nächster und wahrscheinlich letzter Schritt wird es sein, das Mädchen in mir mit der Frau im Spiegel bekannt zu machen und sie kennen zu lernen. 

Meinen Körper zu akzeptieren.
Zu leben. 


3 Kommentare:


  1. Dieser Post hat mich total berührt und ich finde es so schön dass es dir besser geht.
    Ich kann soviel verstehen was du schreibst und ich hattte tränen in den Augen.

    Ich hoffe, dass du es bald schaffst dich genau so wie du bist zu lieben ♥

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  2. Hey, danke für deinen Kommentar. Wenn ich deine Story lese, würde ich sagen: Ach du Schei*e, dann kann ich gar keine Bingerin sein, denn mir geht es bedeutend "besser" als die von dir beschriebenen Situationen. (es ist kein ständiger Kampf zw FAs und Fasten, Medikamente nehme ich auch nicht). Aber wenn mal ein FA kommt, dann kann ihn NICHTS zurückhalten. Kein Zähneputzen, keine 2 Liter Mineralwasser. Auch nicht ein riesengroßer gesunder Salat. Nichts. Dann schaufele ich alles rein, was ich finden kann, egal ob deftig, süß, würzig, cremig, alles wild durcheinander bis ich Magenschmerzen habe und am liebsten speien würde...Ich schäme mich und esse auch nur allein.
    Das passiert meist dann, wenn ich seelischen Stress habe oder meine Tage bekomme.
    Ich hab mit der Betreuerin der OA-Gruppe ge-e-mailt, und ihr gesagt, dass ich Normalgewicht hab und wie oft ich FAs habe. Sie meinte, dass das nichts ausmacht, man muss ja nicht erst dann kommen, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist...Ich werde mich bis Mittwoch entscheiden, ob ich hingeh, denn dann ist das nächste Treffen.
    Naja.

    Ohmann, tolle Pläne hast du da! Ich wünsch dir jetzt schonmal ganz viel Glück für die "Eignungs-"Prüfungen für England!

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  3. Hallo. Ich habe gerade zum ersten Mal deinen Blog entdeckt - und werde sicher wieder kommen. Deine Geschichte kommt mir an einigen Stellen bekannt vor. Ich war viele Jahre Magersüchtig und habe mittlerweile Normalgewicht... nach Außen also alles tutti... schön wärs...
    Anyway...
    Ich wünsch dir alles Gute, dass du deine Ziele erreichst!

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